Nicaragua: Die Tragödie geht weiter

Donnerstag, 24. Mai 2018


(zas, 24.5.18) Die Interamerikanische Menschenrechtskommission der OAS (CIDH) hat am 21. Mai ihren ersten Bericht zur Lage in Nicaragua. Wer ihn liest, «weiss»: Schuld ist ganz allein das unterdrückerische Regime. Der Bericht gibt wie vielen andere Äusserungen wieder, was für Viele klar ist: Die sandinistische Regierung hat letzten April versucht, eine Protestbewegung niederzuschiessen, und hat dafür einen bis heute anhaltenden Sturm geerntet.
Auch im CIDH-Bericht scheinen die Quellen dürftig zu sei – bis z. B. auf die erschreckende Zahl von 76 Ermordeten bis zu seiner Abfassung, eine Zahl, die die Kommission pikanterweise von der Regierung erhalten hat. Was klar ist: Viele der Toten, eine Mehrheit von ihnen wohl DemonstrantInnen, sind gezielt von Scharfschützen liquidiert worden. Dafür sprechen die Schusswunden, offenbar ausnahmslos von Brustkorb bis Kopf. Es ist zu betonen, dass nach wie vor Unklarheit herrscht darüber, wie viele der Ermordeten DemonstrantInnen waren, wie viele ParteigängerInnen der Regierung (inkl. Sicherheitskräfte) und wie viele an sich unbeteiligte PassantInnen. Es ist aufgrund der manchmal wohl gezielt gestreuten Falschinformationen – von «Ermordeten», die über die Social Media ihren Tot als Falschmeldung bezeichneten, oder ein an einer Krankheit zuhause Verstorbener, den die Rechte als weiteres Opfer des Regimes missbraucht hatte - ein klares Bild zu haben. Unbestritten ist offenbar, dass die grosse Mehrheit Oppositionelle waren. Die Hauptverantwortung für diese konfuse Lage trägt für einmal nicht die klassische Rechte – sie missbraucht die Lage in zynischer Weise – sondern die Regierung, die sich in Schweigen hüllt. Das nährt natürlich den Verdacht ihrer (Mit-) Täterschaft.
Der CIDH-Bericht – die Kommission hatte sich während ein paar Tagen im Land aufgehalten – ist insofern tendenziös, als er zwar einzelne Elemente aufzählt, die eigentlich klar auf oppositionelle Gewalt hinweisen, aber sie zu einzelnen Episoden erklärt – was z. B. im Fall der Bewaffnung der «friedlichen» Demos eindeutig nicht stimmt oder sie mitten in der Aufzählung von realen oder angeblichen Regierungsmisstaten aufzählt, ohne dies deutlich zu machen. Nachdenklich sollte etwa auch folgende Passage machen, die von Nicaraguanischen Roten Kreuz handelt:  «Es wurde zudem [nach der Aufzählung von Rot-Kreuz-Einsätzen] denunziert, dass im Rahmen der Proteste die Notgallnummer nicht korrekt funktioniert haben soll. Die Organisation teilte mit, dass die Kommunikation konstant unterbrochen wurde und dass die Arbeit der Freiwilligen und des medizinischen Personals, welche die Verletzten betreuten, behindert wurde. Eine Gruppe von der Feuerwehr denunzierte vor der CIDH, dass sie daran gehindert wurde, die Ambulanzen auf die Strasse zu fahren.» Als nächstes geht die CIDH auf den tatsächlich erschreckenden Umstand ein, dass in einzelnen staatlichen Spitälern Verletzte offenbar nicht behandelt wurden. (Ein 15-Jähriger erlag vermutlich deshalb seiner Schussverletzung.) Das Problem mit dieser Art von Darstellung ist, dass die Behinderung des Roten Kreuzes umstandslos der Regierung angelastet wird – dies, obwohl schon in den ersten Tagen ein Gesundheitsposten von Oppositionellen niedergebrannt wurde und andere medizinische Einrichtungen angegriffen worden waren.
Es ist sehr schwierig, zu wissen, was jeweils stimmt und was nicht. Die Rechten reden von bis heute andauernden Regimemassakern, was zumindest in den letzten Wochen mit grosser Wahrscheinlichkeit einfach gelogen ist: Die Regierung hätte alles Interesse, die Lage zu beruhigen und nicht noch weiter aufzuheizen. Als vor wenigen Tagen im Rahmen von landesweiten Strassenblockaden in der Stadt Matagalpa und in Sébaco zwei Mitarbeiter der sandinistischen Gemeindeverwaltung von bewaffneten Trupps der Rechten erschossen wurden, machten die Propagandaorgane der Rechten «sandinistische Paramilitärs» für die Morde an den beiden «Regimegegnern» verantwortlich. Umgekehrt ist die offiziöse Darstellung im Internetportal 19 Digital, das von der Präsidentengattin und Vizepräsidentin Rosario Murillo geleitet wird, und das bloss betende Sandinistas kennt, die nur Liebe und Frieden ersehnen – unter dem Diktat von Murillo gibt es keine Gegendemonstrationen des Frente Sandinista, sondern nur «Gebetsdemonstrationen» - keineswegs eine Quelle der Information.
Was immer klarer wird: Die jetzigen Unruhen, insbesondere die schwere wirtschaftliche Folgen mit sich bringenden Blockaden grosser interurbaner Verbindungen, aber auch des Verkehrs in Managua, entsprechen immer mehr einem Kalkül des regime change. Auf politischer Ebene erweist sich das Movimiento de Renovación Sandinista. MRS, als wichtiger Akteur, was keine Überraschung ist: Das MRS durfte schon vor zwei Jahren in den Büros ultrarechter US-Kongressabgeordneter Werbung für deren angepeilte Sanktionspolitik gegen das Land machen. Offenbar sind in Gewaltszenen auch Strassenbanden involviert; Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig, mit diesen unter einer Decke zu stecken. Auch das ist angesichts des offenen Sehnens der Regierung nach «Normalität» spätestens seit zwei oder drei Wochen ein Propagandainstrument des Regime-Change-Lagers.
Nach wie vor ist es der Solidarität hierzulande nicht wirklich möglich, eine genauer Einschätzung der Dynamik zu haben. Eindeutig waren die Proteste zu Beginn von rebellischen Jugendlichen getragen, die, oft mit sandinistischem Familienhintergrund, in keiner Weise als Contras zu deklassieren waren, aber tatsächlich von der Regierung mit Gewalt angegriffen wurden. Andererseits kamen schon früh Zweifel am «rebellischen Spirit» der Proteste auf, auch wenn diese von der Rechten und auch von vielen Linken als neue Revolution, vergleichbar mit jener von 1979, dargestellt werden. Schon wenige Tage nach ihrem Beginn etwa spielte sich in der faktischen Zentrale der Opposition, der baptistischen Upoli (Polytechnikum) in Managua, eine entsetzliche Szene ab: Piero Coën, der reichste Kapitalist im Land, liess sich da von einer begeisterten Menge von «RebellInnen» abfeiern wie ein Rockstar von der Fangemeinde. Die Upoli ist immer noch besetzt, offenbar von einer Gruppe, die teilweise aus Kadern des MRS besteht. Von ihr sollen, laut Regierungslager, üble Einschüchterungsaktionen etwa in der Nachbarschaft ausgehen, während umgekehrt die rechten Medien vom Strom der Solidarität der AnwohnerInnen mit den «muchachos» berichten.
Zwei Dinge noch: Jorge Capelán und Stephen Sefton, Verfechter der These von des «sanften Putsches», weisen in ihrer Darstellung die These von der Komplizenschaft des Frente Sandinista bzw. dessen Leitung mit den Patrons und dem IWF scharf zurück. Sie schreiben: «In Nicaragua ist es nicht die Bourgeoisie, sondern der Sektor der popularen, kooperativen, assoziativen und selbstverwalteten Wirtschaft, der mehr als die Hälfte des Bruttoinlandprodukts herstellt und 70 % der Arbeitsplätze generiert. Aus diesem Grund untersagte die Regierung beispielsweise das Operieren von Uber im Land. Auch in Sachen Investitionen ist nicht die Bourgeoisie führend, sondern es sind dies der Staat und das ausländische Kapital -und in diesem ist ein beträchtlicher Teil von sehr kleinen Kapitalien inbegriffen, sogar solche von US-AmerikanerInnen mit nicht-kapitalistischer Logik, die kleine Hotels und anderes aufbauen. So sehr der COSEP in der Debatte eine prominente Rolle spielt, handelt es sich bei nicht um einen starken Unternehmerverband. Andererseits hätte das Universum der Wirtschaftssektoren der popularen AkteurInnen und der kleinen, nicht von spekulativer Logik geprägten Kapitalien politisch nach links konsolidiert werden müssen, was aber wegen spezifischer historischer Faktoren des Landes nicht gelang.» Diese letzte Klage wiederholen die Autoren, beide klar geprägt von den Arbeiten zur nicht-kapitalistischer Realökonomie in Nicaragua von Orlando Nuñez, ohne sie näher zu erläutern.
Coën lässt sich feiern. Video hier.
 Solche Umstände machen deutlich, dass eine klare Schwarzweiss-Einteilung der Dynamik in Nicaragua zu kurz greift, auch auf sozio-ökonomischer Ebene. Umgekehrt können sie extrem Negatives nicht ausradieren: etwa der Autoritarismus in Regierung und Partei, beide geführt vom Präsidentenpaar und ihrer nächsten, oft sogar familiären Umgebung; die teilweise nur noch absurd anmutenden obskurantistisch-religiösen Dauerlektionen von Rosario Murillo und vieles andere. Murillo wird auch von vielen Sandinistas in- und ausserhalb des Frente gehasst, ihr Abgang wird gefordert. Tatsächlich kann man sich diesem leider wohl frommen Wunsch nur anschliessen. Allerdings übersieht die Fokussierung auf die «Compañera», wie die Frau Frente-intern genannt wird (!), den wichtigen Punkt, wann ihr Aufstieg in der Hierarchie in zum jetzigen Thron auf dem Olymp begann, von dem aus die Oberschamanin «ihr Volk» dauernd über die Ströme der kosmischen Liebe etc. belehrt. Es war nicht sie, sondern ihr Mann, der ihre Tochter sexuell missbraucht hatte, wie diese in den späten 1990er Jahren öffentlich gemacht hatte. Der Stiefvater, nicht die Mutter. Diese allerdings begann nun eine steile Karriere, als sie «das sandinistische Volk» um Verzeihung für ihre «schlechte Tochter» bat, die den unschuldigen Stiefvater so böse angreife. (Noch heute kommt mir die Kotze und die Verachtung, wenn ich an diesen Moment denke, wo wir in Managua die Übertragung von einer Parteifeier im TV anschauten.) Seither ist Murillo nach und nach in die Position der Parteiprophetin und Lenkerin nach ihrem Gatten hochgerückt.
Solche «Details» sind politisch, nicht nebensächlich – zuweilen haben derartige Komplizenschaften böse Folgen. Wie in Nicaragua diese erdrückende frömmelnde Heuchelei von oben, gegen die zusammen mit anderen Autoritarismen irgendwann Gegenwehr entsteht.
Die jetzt instrumentalisiert wird.
Wie gesagt: Statt Endlosgebete Information! Insbesondere zur Frage der Scharfschützen. Dass diese aus den Reihen der Polizei stammen, ist höchst unwahrscheinlich. Bleibt u. a. die These der «sandinistischen Paramiltärs», Menschen mit militärischen Fertigkeiten von früher. Tatsache ist, dass es dafür bisher kaum kein reales Indiz gibt – abgesehen von dem Mord an zwei Jugendlichen in Estelí. Der Vertrauensanwalt der Familien der beiden, ein sandinistischer Anwalt, erklärte in einem Interview mit Radio La Primerísima, die Autopsie, bei der er zugegen war, habe klar ergeben, dass die Todesschüsse aus dem Bürgermeisteramt gekommen waren, vor dem die Leute friedlich demonstriert hatten. Eine öffentliche Information der untersuchenden Staatsanwaltschaft steht immer noch aus. Und dann gibt es natürlich die These von Schützen der Rechten, die Tote produzierten, um die Regierung kippen zu können. Auch hier würde es nicht an Menschen mit entsprechenden technischen Kenntnissen fehlen. Der Bürgermeister von Matagalpa meinte etwa am Telefon, in seinem Departement seien Teile der ehemaligen Contra für Destabilisierungsversuche verantwortlich (eine Konterarmee unter CIA-Kommando, die in den 80er Jahren einen brutalen Krieg gegen das revolutionäre Nicaragua geführt hatte). Auch diese These könnte einige Dinge erklären. Bis heute aber haben wir das Problem, dass die Regierung sich zum Thema ausschweigt. Das ist nicht hinnehmbar, wie die Erklärung von Solidaritätsgruppen in der Schweiz kritisiert.
Statt Tacheles zu reden, scheint sich der offizielle Sandinismus mehr auf den Versuch zu konzentrieren, in dem zurzeit allerdings wegen der ultimativen Forderungen der «Studenten» blockierten Dialogprozess unter Leitung der Bischofskonferenz auf eine Ausmarchung mit den Unternehmerverbänden und der OAS, die neu beteiligt ist, zu konzentrieren. Es hatte Wochen gebraucht, bis sie eine Zahl der Ermordeten nannte. Nicht etwa gegenüber der Bevölkerung, nein, gegenüber der OAS-Kommission!


Nachtrag: US-Sicht
Der Medienkonzern McClatchy hat heute über mögliche US-Sanktionen gegen Nicaragua berichtet. Ein/eine senior administration official teilte mit, nicaraguanischen Regierungsmitglieder und Finanzleuten könnte etwa der Zugang zu US-Finanzinstituten gesperrt werden (übersetzt: der Aussenhandel wird erschwert). Das werde vom Befolgen der Ergebnisse des Dialogprozesses abhängen. McClatchy schreibt: «Die/der senior administration official sagte, die USA würden nicht die Opposition lenken und müssten behutsam mit den Oppositionsgruppen umgehen, um nicht Regierungsanschuldigungen bzgl. US-Imperialismus zu verursachen. Die/der Funktionär/in sagte: ‘Dies ist, was die Regierung betrifft, ein Land, dem es ziemlich gefällt, bei jeder Gelegenheit auf uns einzutreten. Das Risiko ist, dass wenn wir rhetorisch zu sehr an der Spitze dessen sind, was sich ereignet, riskieren wir, es zu unterminieren.’» Aber, schreibt McClatchy weiter, «die USA werden handeln, wenn die Ortega-Regierung nicht mit der internationalen Untersuchung kooperiert, die Gewalt nicht eindämmt oder den Dialog als Verzögerungstaktik benutzt. Die/der Funktionär/in sagte: ‘Wir müssen einen Teil dieses Prozesses sich entwickeln lassen, denn wir haben ihn gefordert.’»   
Zu den Sanktionen zitiert das Medium eine/b weitere/n senior administration official: «Wir reden darüber, wir treffen uns zu dieser Frage. Aber die Leute realisieren das nicht, weil sie mehr auf unsere Aktionen in Venezuela achten. Aber das ist für uns auch eine wichtige Angelegenheit.» Diese/r Funktionär/in weiss, was in Sachen Regierung vom Dialogprozess zu halten ist: «Es ist eine Taktik des Zeitgewinns. Wie Maduro uns lehrte, denken sie nicht daran, ehrlich zu verhandeln.»