Venezuela - Wie misst man Siege?

Freitag, 7. April 2017




Marco Teruggi*

Venezuela ist keine grosse Barrikade. Und keine Massen haben Caracas eingenommen. Die Massenmedien lügen. Seit vergangenen Donnerstag (30. März) die globale Denunzierung dessen, was ein Selbstputsch gewesen sein soll, ansetzte, gleicht die Stadt sich selber. Die Strassen waren ihre Strassen, so typisch caraqueñas. So sehr, dass man der Existenz des sogenannten Selbstputsches durch Botschaften von aussen gewahr wurde, während im Zentrum, in der Umgebung des Parlaments, beim Miraflores-Palast (Regierungssitz) alles so war wie immer.
Hat es einen Staatsstreich gegeben oder nicht? Juristisch nein. Das Oberste Gericht (TSJ) traf einen Entscheid betreffs eines Parlaments (AN, Asamblea Nacional), das weiter das Recht bricht, indem es drei dank Betrug gewählte ParlamentarierInnen behält; das mehrmals angekündigt hat, mit Nicolás Maduro Schluss zu machen; das im Oktober 2016 einen Staatsstreich versucht hat[1] und das im Januar wieder entschied, den Präsidenten nicht anzuerkennen. Die Geschichte ändert je nachdem, wo man ihren  Beginn sieht – die argentinische Zeitung La Nación wiederholt, dass die politische Gewalt in Argentinien mit der Guerilla der Montoneros angefangen habe. Wir könnten auch weiter zurückgehen: Die, die heute Parlament und Opposition leiten, sind die gleichen, die den Putsch 2002 gegen Hugo Chávez anführten. Sie schieben Vergesslichkeit vor.
Es gab also am Donnerstag keinen Staatsstreich. Es gab einen Entscheid, der die Immunität der Abgeordneten aufhob und dem Obersten Gericht die Möglichkeit gab, sich Kompetenzen der seine Entscheide missachtenden AN anzueignen. Die Medienlawine erfolgte automatisch im Rahmen der von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) angeführten internationalen Angriffe auf Venezuela. Am Freitag (31. März) kam es zu einer unerwarteten Wende, als die Generalstaatsanwältin vor laufender Kamera sagte, die Resolution des TSJ habe die Verfassung verletzt. Und in der gleichen Nacht kam es zu einer weiteren Wende, als Maduro eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats zur Lösung des Problems ankündigte. Am Samstag widerrief das TSJ die beiden Punkte, die Anlass für die Polemik waren. Purzelbaum retour. Zurück auf Position 1?
Viele StaatsrechtlerInnen äusserten sich zur Frage der Gültigkeit des ursprünglichen TSJ-Entscheids. Die Rechte sagte, alles sei einstudierte Show: Die Resolution, die Staatsanwältin, Maduro, der neue Entscheid. Alles mit dem Ziel zu demonstrieren, dass eine inexistente Gewaltenteilung existiere – die grosse Verschwörung. So dass sie niemanden anerkannten und auf die Strasse gingen: Scharmützel am Donnerstag und Freitag plus einige Minuten Pfannendeckelschlagen, Besammlung am Samstag von 2000 Leuten im Osten der Stadt, am Dienstag dann die grosse Show für die Medien. Derweil die Abgeordneten ankündigten, die Obersten RichterInnen abzusetzen.
Zusammenstoss der Staatsgewalten, Zusammenstoss für die Kameras, Zusammenstoss international.
Und auf den Strassen?
Caracas ist in zwei Gemeinden unterteilt. Im Westen regiert der Chavismus, im Osten die Opposition. Die Grenze: die Plaza Venezuela. Seit Februar 2014, als sie mehrere Institutionen in Brand setzte, hat die Rechte keinen Zugang mehr zum Westen. Damals fing der Zyklus der guarimbas (gewalttätige Strassenkämpfen) an mit seiner Folge von 43 Toten – Leopoldo López, der intellektuelle Täter, wurde damals verhaftet. Deshalb demonstriert die Rechte im Osten der Stadt.  Hier ist ihre soziale Basis von oberen Mittelschichten. Die Führer versprechen, in den Westen zu kommen, zum Sitz der Regierung, jenem des Wahlrats, der Generalstaatsanwaltschaft, was grad zur Konjunktur passt. Über die Plaza Venezuela zu gelangen, darum geht es, das wollen die escuálidos (die Kümmerlichen, Verwahrlosten, Kotzbrocken – Begriff für die Rechten), das künden ihre Führer ohne Führungskapazität an, um dann die Erwartungen jeweils zu enttäuschen. Denn da sie keine Bewilligung haben, treffen sie auf ein Polizeiaufgebot. Sollte man sie durchlassen? Damit sie dann auf die Mobilisierungen des Chavismus stossen?
So mobilisierten sie am Dienstag. Es waren wenige, sehr wenige. Vielleicht drei tausend, angetreten um eine Regierung, eine Diktatur zu stürzen. Denn das wird ihnen gesagt. Und wer wie ich aus dem Süden kommt, mit all den Toten „im Gepäck“, muss sich zusammenreissen, wenn er die Kinder der Bourgeoisie hört, wie sie Diktatur schreien, diese Herren der Verhältnisse schon viel zu lange, die an jedem Tod auf unserer Seite verdienen. Das Muster der internationalen Berichterstattung ist klar: Putsch, Regime, Diktatur, Zensur, politische Gefangene, Verletzung der Menschenrechte, humanitäre Krise. Auf der Strasse spielt sich anderes ab: Angriffsgruppen für die Konfrontation, um Rauch zu erzeugen, Steine, Fluchten. Es braucht Bilder für die OAS, die Welt. Wenn die Massen fehlen, gibt es trainierte Zellen. In der Krawallzone waren es nicht mehr als 300 Leute. Man verknüpfe solche Bilder mit den Tränen der zur Engelgestalt erhobenen Gattin des politischen Gefangenen (Leopoldo López), ein paar Entkräfteten, einem Wasserwerfer, und das Paket ist geschnürt.
4. April: trainiert gegen die Diktatur...

Der Rechten gelingen keine Grossmobilisierungen mehr. Sie hat letztes Jahr die Hoffnungen zwei Mal betrogen. Sie brachte 40‘000 Menschen auf die Strasse mit dem Versprechen, zum Miraflores-Palast zu ziehen. Am Schluss jeder Kundgebung schickte sie die Leute wieder nachhause, um bestenfalls Pfannenlärm zu machen. Sie haben an Legitimität eingebüsst, ihre soziale Basis will Revanche, Bestrafung. Auch die Führung. Es ist nicht so einfach, eine Regierung zu stürzen ohne Streitkräfte und Unterklassen und mit einer Bourgeoisie, die ihre Abkommen zunehmend mit genau dieser Regierung schliesst. Deshalb hängen sie von der internationalen Front ab. In den Tagen rund um die Verkündung des Putschs reisten zwanzig ihrer AnführerInnen ins Ausland, darunter Capriles Radonsky, Lilian Tintori, Freddy Guevara, Julio Borges. Zufall?
Sie haben die Strasse verloren. Der Chavismus dagegen behält sie. Mit weniger Spontaneität und mehr Staatsangestellten allerdings. Die soziale Basis beider Seiten ist zurückgegangen. Eine von mittel zu klein, die andere von immens zu gross.  Letztere wird stärker, wenn der Imperialismus wie in den vergangenen Wochen einen Angriff verkündet: die Reihen schliessen sich, der historische Feind rückt ins Bild. 
Chavistische Mobilisierung gegen die aktuelle Destabilisierung

Etwas ist diese Tage bemerkenswert: es gibt kein Klima von Putsch, von politischer Konvulsion wie etwa noch im letzten Oktober. Auf den Strassen von Caracas und des Landes herrscht Alltag. Wie wenn der Konflikt, so real wie es der Gewaltenkonflkt und die Drohungen der OAS sind, nichts mit den normalen Leuten zu tun hätte. Als wären sie der Logik von Konflikt/Abkommen zwischen Superstrukturen überdrüssig, der kleinen Politik. Ein Signal, das zeigt, dass es nötig ist, zu begreifen, was in den Zeitrhythmen des Volkes passiert, die sich nicht in den kommunikativen/politischen Agenden wiederspiegeln. Warum scheint die Mehrheit etwas derart Wichtiges aus der Distanz zu betrachten? Was bedeutet dies?
Für die Rechte ist es ein minderes Problem, keine Massenmobilisierung zu erreichen. Es ist nicht von strategischer Bedeutung, die Entpolitisierung der Gesellschaft ist Teil ihres Plans. Im Gegensatz sind die Kosten für den Chavismus dafür sehr hoch: Eine der Stärken des Veränderungsprozesses war gerade, die Politik den Menschen zurückzugeben, sie zum Teil der Geschehnisse zu machen, mit einer Politik hinter verschlossenen Türen zu brechen. Es gibt die Aufrufe an die Demos, um Kadern zuzuhören, Entscheide des Präsidenten zu unterstützen: jedes Mal weniger Ausdruck von subjektivem Protagonismus, sondern davon, am Empfangsende für die Übermittlung der offiziellen Linie zu sein. Etwas entfernt sich: die Führung von der Basis oder die Basis von der Führung? Als Im Ergebnis scheint die Politik wieder in die normalen Bahnen der eingeschränkten Demokratie zurückzufinden, in jene, die zu zerstören die Revolution sich vorgenommen hatte. Es ist die Politik des Nichtengagements, der Distanzierung von einer Politik in einer nationalen Dynamik, die gekennzeichnet ist durch periodische Episoden wie jene, die wir gerade durchqueren.
Wohin gehen die, die sich entfernen? Ihre Alltagsprobleme lösen, gezeichnet von den Schwierigkeiten einer als Teil der Destabilisierung sabotierten Wirtschaft, unter der die Volkssektoren am meisten leiden, die wichtigste gesellschaftliche Basis des Chavismus.
Wohin gehen sie in Sachen Wahlen?
Die politische Frage ist: Warum fällte das Oberste Gericht seinen Entscheid zum Parlament mitten im internationalen Angriff? Es war voraussehbar, dass das den internationalen Druck verstärken würde, die nationale Ungewissheit, die Ermüdung der Leute. Der Grund ist die Unmöglichkeit, mit einer Initiative zur Schaffung/Modifizierung von gemischten Ölgesellschaften voranzukommen. Denn dafür ist von Gesetz wegen die Zustimmung des Parlaments erforderlich. Welche Modifizierungen oder Neuschaffungen waren so ausgebremst? Es musste sich, damit dieser Entscheid in diesem Moment getroffen wurde, um etwas Strategisches handeln. Jedenfalls gab es dazu keine öffentliche Debatte.
Deshalb die Frage nach dem Resultat unter dem Strich. Diente die Sache der Repolitisierung, der Öffnung von Kanälen, der Revitalisierung des politischen Geschehens? Wenn sie aber mehr Distanz zwischen Leuten und Politik schuf, ist der Saldo negativ, eine Verstärkung einer gefährlich wachsenden Tendenz. Es ist problematisch, das wie ein Schachspiel zu sehen, wie einen Disput zwischen zwei einzig von ihren Führungen bestimmten politischen Kräften. Aus dieser Sicht aber, die im in der chavistischen Führung um sich greift, war es eine siegreiche Schlacht.
Die Ereignisse entwickeln sich laufend. Die Rechte wird weiter darauf insistieren , von der Legislative aus die politische Konfrontation zu leiten. Sie will zudem das Oberste Gericht absetzen und den „Bruch der demokratischen Ordnung und die Weiterexistenz des Puschs“ deklarieren. Das Epizentrum ihres Plans ist im Ausland, ein Zeichen ihrer Schwäche im Land, ihrer fehlenden Führungskapazitäten, ihrer internen Dispute, der Unmöglichkeit, jenen Sprung zu machen, den sie seit 1999 nicht schafft, um die Konfrontation auf Augenhöhe zu führen. Deshalb so viel OAS, Wirtschaftsangriff, Infiltration von Paramilitärs ins Land. Es macht nicht den Anschein, dass sie mehr Leute um sich scharen kann. Aber ist das wirklich wichtig? Entscheidend scheint zu sein, ob sie die Stimmen jener ergattern kann, die sich müde abwenden.
Die Revolution ihrerseits steht vor der Notwendigkeit, dort wieder geboren zu werden, wo sie entstand: bei den Leuten, im Volk, das materiell und politisch nicht mehr jenes von 1999 ist. Und einer der schlimmsten Fehler der Führung ist die Selbstgenügsamkeit. Auf wirtschaftlichem Gebiet hat die Regierung schon klargemacht, auf was sie setzt: zentral auf das Unternehmertum. Man hat ihm die Preisliberalisierung gegeben, die Importdollars, TV-Frequenzen. Im Alltag kommt das Resultat noch nicht an. Zeit? Es verbleibt nur noch wenig. Gegenüber bereitet sich eine Revanche an den Massen vor.
·        hastaelnocau, wordpress.com, 6. 4. 17: Nuevos asaltos: ¿cómo se miden las victorias?



[1] Eine kurze Auslandreise von Präsident Maduro in Sachen internationaler Ölpreis verurteilte es als Amtsaufgabe des Präsidenten. Die dadurch entstandene Vakanz müsse es jetzt füllen. Es war ein Versuch eines parlamentarischen Putsches nach brasilianischem oder paraguayischem Vorbild.