Brasilien: Zweifrontenkampf der Linken

Montag, 24. August 2015




(zas, 24. 8. 15) Diesen vergangenen Freitag, den 21. August, ging die brasilianische Linke in einem Zweifrontenkampf auf die Strasse: gegen die Regierungspolitik der fiskalischen „Strukturanpassung“ und gegen den massiven Versuch der rechten Ultras, die Regierung von Dilma Rousseff von der Partei PT (Partido dos Trabalhadores, Arbeiterpartei) zu stürzen und eine Phase der offenen Restauration einzuleiten. Es waren primär die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), die Bewegung der Obdachlosen MSTS (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto; vom MST gegründet, heute eine starke städtische Organisation), der Gewerkschaftsverband CUT (Central Única dos Trabalhadores), relevante Teile des PT, die (offenbar in der Frage uneinige) trotzkistische Partei PSOL und die klassische KP PcdoB, die in mindestens 21 Staaten Brasiliens zu Demonstrationen mobilisierten. Es waren zwischen 175‘000 und mehreren Hunderttausend (je nach Quelle), die dem Aufruf folgten. Generalmotto: „Gegen das Spardiktat! Lasst die Reichen die Krise bezahlen“ und „Die Strassen nehmen für Rechte, Freiheit und Demokratie! Gegen die Rechte und das Spardiktat!“.
Eine Demo am 20. August. Quelle: MST.

Nach Angaben des MST waren es allein in São Paulo um die Hunderttausend, die „gegen das Spardiktat und für die Verteidigung der Demokratie“ auf die Strassen gingen. „Die Mobilisierungen richteten sich im Schwerpunkt gegen die aktuelle Sparpolitik der Bundesregierung und die vom Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, geleitete konservative Wende und betonten:  ‚Die Lösung der Krise führt nach links‘“. Cunha ist Mitglied der rechten, opportunistischen Partei PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro), die bei den letzten Parlamentswahlen die meisten Stimmen machte. Bisher mit dem PT liiert, hat sich nun ein Teil klar auf die Seite jener Kräfte um Aécio Neves und Fernando Henrique Cardoso (allgemein FHC genannt) geschlagen, die unter dem Vorwand des Petrobras-Korruptionsskandals ein Impeachmentverfahren gegen Präsidentin Rousseff durchsetzen wollen. Beide sind vom rechten PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira). Neves verlor die 2. Runde der Parlamentswahlen ziemlich knapp und insistiert seither auf einer „3. Runde“, mit Unterstützung des für seine Privatisierungs- und Korruptionsorgie berüchtigten ehemaligen Staatspräsidenten FHC, der etwa mit den Clintons verbandelt ist.  Cunha hat sich mit einem Teil des PMDB auf die Seite dieser „sanften“ Putschisten gestellt. Am Tag der linken Mobilisierungen  hat die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen ihn erhoben wegen massiver Beteiligung am Petrobras-Skandal. U. a. soll er etwa für die Vermittlung eines Auftrags zum Bau von zwei Schiffen des staatlichen Ölkonzerns Petrobras zugunsten des Multis Samsung $ 5 Mio. eingestrichen und diese zum Teil über seine Kirche, die Asambleia de Deus (God’s Assembly, eine fast weltweite evangelikale Sekte aus den USA), gewaschen haben. Etwas dumm für den Politiker, der eine führende Rolle beim Versuch einnimmt, Dilma Rousseff wegen ihrer angeblichen Beteiligung an Petrobras-Skandal zu stürzen.
Die Mobilisierungen waren klar auch eine Antwort auf die rechten Demos vom vorherigen Sonntag zugunsten des Sturzes der Regierung Rousseff, an denen mehrere Hunderttausend Menschen, weniger als bei früheren Anlässen, aber auf jeden fall beunruhigend viele, teilgenommen haben. Die Sozialbewegungen wissen, dass sie den PT wieder nach links drücken müssen; gelänge der Versuch von Teilen der Rechten, den PT aus der Regierung zu drängen, wäre ein enormes Rollback unausweichlich. Ein Blick auf die beiden Parlamentskammern mit ihren fundamentalistischen, Diktaturverherrlichenden, militant sexistischen und elitistischen Blöcken zeigt, wohin die Reise ginge. Gleichzeitig aber betreibt die Regierung Rousseff aktuell eine Politik der „Wirtschaftsankurbelung“ mit klar neoliberalen Charakteristika, für die nicht nur der Banker und Finanzminister Joaquim Levy sondern auch die Ausrichtung auf das Agrobusiness steht. Die starken Mobilisierungen vom letzten Freitag zeigen den Doppelcharakter der Situation auf: gegen die Politik der Regierung, für die Verteidigung der Regierung gegen die Rechten.
Diese Mobilisierungen stehen nicht alleine da. Am letzten 3. August etwa besetzten rund 2000 AktivistInnen des MST Niederlassungen des Finanzministeriums in verschiedenen Gliedstaaten, parallel zu Strassen- und Landbesetzungen anderswo. 
Bei der Besetzung einer Niederlassung des Finanzministeriums. Foto: MST

Ministeriumsbesetzung. Foto: MST.
Sie bekämpften damit die unter Rousseff beeindruckende Verlangsamung der Agrarreform, deren eh unzureichende Mittel im Rahmen  der aktuellen „Spardynamik“ Levys um fast die Hälfte gekürzt wurden, von 3,5 auf 1.8 Mrd. Reais (von € 0.86 Mrd. auf €  0.44 Mrd.). Kelli Mafort von der Nationalen Koordination des MST sagte: „Wir können der Sparpolitik nicht untätig zusehen. Wir sind dem Volk verpflichtet.“ Zum Agrarproblem führte sie weiter aus: „Wir verlangen die Ansiedlung alles Familien in den Lagern. Wir haben Familien, die seit mehr als 10 Jahren im Zelt leben und die Opfer der Gewalt des Grossgrundbesitzes und des Agrobusiness sind. Die Regierung muss Zielvorgaben für die Ansiedlung von mindestens 50‘000 Familien pro Jahr für die Zeit von 2016 bis 2018 ausarbeiten.“ 
Kelly Mafort.

Am 11. und 12. August kam es zur Marcha das Margaridas, zu einer von der LandarbeiterInnengewerkschaft Contag und feministischen Gruppen organisierten Frauendemo in Brasilia mit, je nach Quelle, 30‘000 bis 70‘000 Beteiligten. Inhalte: Für Dilma  - gegen Putschversuche, gegen die Gewalt an Frauen, für die Ernährungssouveränität, gegen Homophobie, gegen die mörderische, oft staatliche rassistische Gewalt.


Die an den linken Mobilisierungen beteiligten Kräfte versuchen, den Frente Brasil Popular als Linksfront sowohl gegen die neoliberale Ausrichtung der PT-Regierung wie gegen die rechten Rollbackstrategien aufzubauen. Francisco Terto von der nationalen MST-Koordination sprach an der Mobilisierung im Staat Pernambuo von „einem historischen Meilenstein in der linken Neugruppierung in Brasilien. Er dient zum Aufbau eines neuen politischen Instruments, um den politischen und ökonomischen Kampf und die sozialen Veränderungen voranzutreiben.“ Alles andere als ein Treueschwur in Richtung PT.
Interessanterweise hat sich in den hegemonialen Medien wie „O Globo“ in den letzten Tagen die Pro-„sanfter Putsch“-Tonlage etwas geändert. Insofern, als die Impeachmentrhetorik Raum abtreten musste an eine Linie, die für eine verstärkte „Anpassung“ der Regierung Rousseff an die kapitalistische Diktate plädiert. Dies dürfte auf mehrere Gründe zurückgehen. Dem PT gelang es, Cunha etwas zu isolieren, was ein – unter den gegebenen Bedingungen klar illegales - Impeachment auf jeden Fall erschwert. Eine putschistische Rechtsregierung stiesse weiter auf jeden Fall auf eine breite Gegenwehr der sozialen Bewegungen, die sozialen Konflikte könnten in unkontrollierbare Richtungen eskalieren. Wieweit die Armeeführung bereit wäre, sich zum blutigen Handlanger eines von den USA abhängigen Regimes zu machen, wäre offen. Senatspräsident Renan Calheiros, wie Cunha PMDB-Mitglied,  aber von der „Pro“-Rousseff-Fraktion, hat vor wenigen Tagen die Agenda Brasil lanciert, die im Kern eine verschärfte neoliberale Zurichtung des Landes (etwa massive Ausweitung der Auslagerung von Arbeitsplätzen in unregulierte Arbeitsverhältnisse) mit einer gewissen Stabilität für die Regierung Rousseff kombiniert. Insgesamt scheint die sich abzeichnende Linksfront von unten durchaus schon Auswirkungen gehabt zu haben. Immerhin etwas – angesichts eines PT, von dem relevante Teile leider in eine verschärfte Rechtsdynamik verfallen könnten.